Persönlichkeitsentwicklung: Tugend statt Moral

Persönlichkeitsentwicklung: Tugend statt Moral

Werden Sie der Mensch, als der Sie gedacht sind

Der Begriff „Tugend“ erscheint vielen Menschen verstaubt und unzeitgemäß. Hochaktuell – nicht zuletzt angesichts der jüngsten Skandale im wirtschaftlichen Bereich – ist dagegen das, was der Begriff meint: eine Grundhaltung, auf der ethische Kompetenz und damit ethisches Handeln beruhen. In seinem Buch „Vom Vorteil, gut zu sein“ präsentiert der Jesuit und autorisierte Zen-Meister Niklaus Brantschen (geb. 1937) die Tugend in neuem, zeitgemäßem Gewand.

Eine wichtige Schlüsselqualifikation

Heute ist viel von Schlüsselqualifikationen die Rede, die für ein gelungenes Leben entscheidend sind. Brantschen stellt neben die fachlichen Qualifikationen und die sozialen Kompetenzen („soft skills“) als dritten Pfeiler die ethische Kompetenz als wichtigen Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung. Basis dieser Kompetenz ist eine innere Haltung der Tugend. Die 4 grundlegenden Tugenden („Kardinaltugenden“) sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten.

Der David in Ihnen

Das Tugendpotenzial steckt schon in Ihnen. Indem Sie es freilegen, werden Sie der Mensch, als der Sie gedacht sind. Diese ermutigende Botschaft illustriert Brantschen mit einer Anekdote über Michelangelo (1475–1564): Im Alter von nur 25 Jahren schuf dieser seine berühmte David-Statue. Auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, aus einem Marmorblock eine filigrane Statue zu meißeln, soll er geantwortet haben „David war schon da. Ich musste nur wegnehmen, was nicht David war.“

Lernen durch Tun

Das Freilegen des eigenen Tugendpotenzials ist für Brantschen kein komplizierter Vorgang, sondern funktioniert nach einem echten simplify-Prinzip: „Sie lernen Gutes tun, indem Sie Gutes tun.“ Voraussetzung dafür ist, dass Sie zu sich selbst stehen – und zu dem David, der in Ihnen selbst steckt.

Damit dies gelingt, empfiehlt Brantschen die folgende Körperübung: Richten Sie sich langsam vom Becken her auf, Wirbel um Wirbel, bis Sie in einer aufgerichteten Haltung stehen. Denken Sie dabei daran, wie sich vor Tausenden von Jahren der Homo entwickelt hat, das Wesen mit dem aufrechten Gang. Bleiben Sie eine Weile aufrecht stehen, mit beiden Beinen fest auf dem Boden.

Fragen Sie sich: Kann ich zu mir stehen, mich annehmen, gut für mich sorgen? Wer sind die anderen, zu denen ich stehen möchte? Sagen Sie laut zu sich: „Ich stehe für … ein.“ Beenden Sie die Übung im Sitzen mit tiefem Einund Ausatmen.

Tugend ist nicht gleich Moral

Tugendhaftigkeit wird oft mit freudloser, lebensfeindlicher Moralinsäure assoziiert. Doch das Gegenteil ist der Fall, so Brantschen: „Tugend wächst aus dem Geschmack am Leben und aus der Sehnsucht, dieses Leben voll zu leben.“

Verwechseln Sie Tugend daher nicht mit Moral, denn:

  • „Moral engt ein – Tugend befreit.“
  • „Moral treibt an – Tugend lockt.“
  • „Moral sagt: ‚Du musst!’ – Tugend sagt: ‚Du darfst!’“
  • „Moral kämpft gegen Fehler – Tugend ist für das Fehlende da.“
  • „Moral lehrt das Fürchten – Tugend macht Mut.“
  • „Moral verspricht Freude – Tugend gewährt sie.“

simplify-Tipp: Nehmen Sie Tugend als Quelle von Freude wahr, indem Sie sich fragen: Welche Tugenden (z. B. Klugheit oder Gerechtigkeit) schätze ich an den Menschen, mit denen ich gerne zusammen bin? In welche Grundhaltung möchte ich selbst mehr hineinwachsen und mich darüber freuen?

Ein Buch, das anspricht und ermutigt: Niklaus Brantschen: Vom Vorteil, gut zu sein. Mehr Tugend – weniger Moral. Kösel-Verlag, München 2005. ISBN: 3-466-36690-9, gebraucht erhältlich.

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